Die Panzerjäger der Nationalen Volksarmee

-Bericht aus der "Armeerundschau" 11/88-

Alles entscheidene machen die Panzerjäger bei dieser Batterieübung das erste Mal: das geschlossene Handeln als militärisches Kollektiv, auch das Schießen unterschiedlichster Aufgaben mit der 100-mm-Kanone - vor allem nachts...
Und trotzdem ist Major Dieter Teichmann darauf aus, dem langjährigen Ruf seiner Einheit als "Batterie der hohen Treffgenauigkeit" treu zu bleiben.
Am Ende der Übung will er mit voller Berechtigung sagen können: Meine Kanoniere tragen jetzt:

DEN KOPF

 

  EIN STÜCKCHEN HÖHER!

Genau genommen bertrifft dieser Marsch in artilleristisches Neuland auch ihn, den Batteriechef. Wie wenig Zeit war sich mit den Besonderheiten der 100-mm-Panzerabwehrkanone MT-12. mit ihrem Schleppfahrzeug MT-LB, mit den veränderten Anforderungen an die Führung der Einheit vertraut zu machen! Zwar ließ Major Teichmann nicht den Kopf hängen, weil ihn die neuen Pflichten beigen wollten, doch das Unzufriedensein über fehlende, abrechenbare Ergebnisse in der Schießausbildung, auch Unmut über den scheinbar nicht so recht flotten Fortgang der Ausbildung in der Einheit schlugen den Soldaten gelegentlich schon mal ziemlich lautstark entgegen. Was half es ihm, wenn andere erzählen, wie die Kanone schießt? Mit den Erfahrungen ist das eben so ein Ding. Bisweilen ist es besser, man hat eigene! Nun läuft die Übung. Woran denken wohl die Bedienungen, überlege ich, wenn sie mit ihren kettenrasselnden flachen Fahrzeugen und den wie hinterherkriechend niedrigen Geschützen im Schlepp auf eine Linie zurollen, die angreidenden Panzern auf keinen Fall preiszugeben wäre? Woran müssen die Kanoniere einfach denken? Ich ertappe mich dabei, dass ich auf diese Frage etwas ganz Bestimmtes als Antwort erwarte. Würde der Geschützführer Unteroffizier Achim Ziegenbalg sagen, dass ihm bange wäre vor diesem Auge-in-Auge-dem-Gegner? Meinte sein Richtkanonier Soldat Klaus Hachert vielleicht, dass von seiner Präzision und Kaltblütigkeit in der Hitze des Gefechts, ganz vorn in der Verteidigung, viel, wenn nicht alles für den Genossen neben und hinter sich abhinge? Alles, also das Leben? Ich bin nicht enttäuscht, dass die Artilleristen auf viel Näherliegendes bedacht sind. Der Unteroffizier dass er Signale nicht übersieht, die deie Batterie als Flaggen oder Lichtzeichen durchlaufen, wenn Funkverbot befohlen ist. Der Fahrer Oberfeldwebel Jörg Fabian, dass er den richtigen Abstand zumvorrausfahrenden MT-LB einhält, damit er bei der Entfaltung der Einheit schnell seinen Platz in der Gefechtsordnung besetzen kann. Der Richtkanonier, dass er wie eich Luchs das Gelände beobachtet, damit er keine Sekunde verschenkt, wenn die Ziele zu laufen beginnen... Bald ist mir solche, auf das handwerkliche konzentrierte Denkart durchaus verständlich.

Unteroffizier Ziegenbalg hat mich darauf gebracht. Der Dredner Abiturient ist noch nicht länger Geschützführer, als seine vier Artilleristen Panzerjäger sind. Ein mehrwöchiger Einsatz zwischen Tagebaugleisen Kohlebergen forderte hnen zunächst ein anderes handfestes Bekenntnis ab, bevor es ans Militärische ging. Und zu grübeln gab es. Wie sollte denn das funktionieren - erst in der Kohle und trotzdem keine Abstriche in der Gefechtsbereitschaft?
Diese Batterieübung würde die Antwort bringen, ob genug Anstrengungen investiert wurde, als Panzerjäger zu bestehen. Wohlgemerkt - als Panzerjäger!

"Andere Artilleriesysteme, die spucken mehr oder weniger große Bogen bis zum Ziel", kommt der Batteriechef auf die Besonderheiten seiner Einheit zu sprechen. "Die schießen über Höhen und Senken, über Waldabschnitte und Gewässer. Die Kämpfer, die dort die Geschütze oder Werfer bedienen und die Granaten abfeuern, sehen in der Regel nicht, wohin die Geschosse fliegen und ob sie treffen, was sie treffen sollen. Das wird ihnen per Funk gemeldet. Ganz anders bei uns. Meine Männer müssen erfassen, was sie anvisieren. Wer aber den Angreifer sieht, der muss damit rechnen, dass der Angreifer auch ihn bemerkt."

Das ist das Problem, das den Panzerjägern bei ihren taktischen Handlungen zu schaffen macht. Der Chancen, unentdeckt zum Zuge zu kommen, gibt es mehrere.
Eine besteht darin, dass Gelände auszunutzen. Nur zu! sage ich da. Verstecke sich einer mit gut neuneinhalb Meter langen Geschützen und knapp zwei Meter hohen Schleppern, wo es fast kahl ist bis zum Horizont! Und selbst, wo vereinzelt Bäumchen stehen, bieten sie eher einem Angreifer Orientierung für das Feuer seiner Waffen als den Panzerjägern Tarnung.
Die zweite Chance heißt: Schachten, eine Stellung ausheben für die Kanone. Das spart sich der batteriechef sicher mal für später auf. Wird einleuchten: Wenn die Panzerjäger ihr MT-12 in eine ausgebaute Stellung schieben wollten, und ihnen stünde nicht mehr und nicht weniger als ihr handbetriebenses Schanzzeug zur Verfügung - sie bräuchten geschlagene 64 Stunden! Würde eine Pioniermaschine für ein halbes Stündchen aushelfen, verkürzte sich diese Frist schon um die Hälfte. Doch da von so einem gerät weit und breit keine Spur ist...!
Die dritte Chance, dem gegner zu trotzen, liegt in der Schnelligkeit, mit der die Feuerstellungen bezogen, die Geschütze abgeprotzt, geladen und abgefeuert werden. Harte Arbeit also.

Sehr früh am Morgen hatte die Batterie eine erste Probe ihres Könnens gegeben.
Ihr Aufgabe: bekämpfen eines befestigten Stützpunktes, 150 x 150 Zentimeter groß, 700 Meter entfernt. Es wurde ein guter Auftakt. Jede Granate ein Treffer. Nun, da die kleine Kolonne den Schießplatz verlassen hat und von einem Waldweg herunter zwischen hohen Kiefern und Birken gefahren ist, um die Technik zu warten, läßt Major Teichmann die erfolgreichen Geschützführer und Richtschützen antreten. "Wenn Belobigung, dann gleich", sagte er. "Da wirkt sie am nachhaltigsten." Seine Anerklennung gilt auch Unteroffizier Ziegenbalf und Soldat Hachert. Mehr und mehr - so höre ich in der Gesprächsrunde der offiziere - findet der junge Dresdner mit seinen vier Kanonieren dorthin, wo man sich, wenn es drauf ankommt, auch "blind" versteht. Damit das immer besser klappt, wird ja geübt! Vorn auf dem Platz stehen auch am Nachmittag Ziele, die die Kanoniere zum schnellen Handeln herausfordern. Die Scheiben bewegen sich sogar, wenn´s gewollt wird. Aber mehr auch nicht. Wie sehr in Fleisch un Blut gegangen ist da den Panzerjägern, geduckt an die Holme oder von den Munitionskisten zum Verschluß eilen, wo doch "von vorne" nichts zu befürchten ist? Können sich 19-, auch 23jährige von einem Gefecht überhaupt vorstellen, was schlechterdings unvorstellbar ist?

44 Jahre vor ihnen haben von Osen her Soldaten in ihrem Alter diese Hölle durchmachen müssen. In dem sowjetischen Film "Heißer Schnee" ist das Schicksal sopwejetischer Panzerjäger im Großen Vaterländischen Krieg zu besichtigen. Alle Angehörigen der Batterie Teichmann haben diesen Streifen nicht ohne Anteilnahme gesehen. Unteroffizier Ziegenbalg hat das vergebliche Anrennen gepanzerter faschistischer Raubtiere gegen eine Handvoll bis zur Selbstaufgabe ringender Artilleristen nochmal im gleichnamigen Buch nachgelesen. Damals - das war. Keiner soll es mehr erleben müssen, meint er. Das ist heute: Und zwar festgeschriebener sozialistischer Grundsatz in unserer Militärdoktrin. Für manch einen an der 100-mm-Kanone ist es schwer, gleich hinter der Logik des scheinbaren Widerspruchs zu steigen, sich an dem drei Tonnen schweren Geschütz abzurackern - damit es nie ernstlich benutzt zu werden braucht. Was wären alle Anstrengungen, Mühen, Entbehrungen der Panzerjäger sonst wert, wenn nicht, den Beweis zu liefern: Wo wir stehen, da macht eine Granate so einem stählernem Ungetüm den Garaus. Was heißt "eine" Granate? Könnte ja so gedeutet werden wie "irgendeine, die man trifft"! So nicht! Dieter teichmanns Panzerjäger wollen mit jeder Granate treffen.

Nur dann ist ihr guter Ruf sicher. Und ein Divisionspokal. Freude kommt beim Batteriechef nicht mal so sehr wegen des militärökonomischen Plus auf. Das auch. Aber die Trefferfrage ist von übergeordneter Bedeutung, ist eine Über-lebens-Frage, sozusagen. Jede Sekunde die sie in der Feuerstellung für eine zweite Granate brauchen würden, setzen sich die Kanoniere länger dem Feuer des Gegners aus.
Eine Existenzfrage ist das Treffen mit der ersten Granate auch noch in anderer Hinsicht. In der Division wird der Wettbewerb um den Titel "Batterie der hohen Treffergenauigkeit" gepflegt. Teichmanns Einheit steht in der Erfolgsserie ohnegleichen. "Seit es die Batterie gibt, sind wir das", weiß Stabsoberfähnricht Oskar Steinbach. Das kling, wenn er das Sagt! Da sprechen Jahrzehnte Armeerfahrung mit, die meisten davon gesammelt in dieser Einheit. Oskar ist der Ältestgediente. Er hat die Einheit mit aufgebaut, war unter dem und jenem KommandeUr schon zUGFÜHRER ODER Hauptfeldwebel wie jetzt. Und Parteisekretär. Und Militärschöffe. "1963 wurde die Batterie gebildet. Das sind ja jetzt sogar runde 25 Jahre! Mann, ´n richtiges Jubiläum!" Mit den Jahren gewöhnt, daß diese Batterie so gut und nicht anders ist. Sie existiert eigentlich ausschließlich als "treffergenauste Batterie". Oder ist das etwa kein Kunststück, den Titel zu kassieren? Könnte fast so scheinen, wenn man nur die Zahlen unter dem Strich sieht. Doch vor jedem Traffer mit der ersten Granate stehen zig kleine Zutaten der Soldaten.


Beispielsweise geht dem Schießen mit den "richtigen Granaten" das Üben mit sogenannten Einsteckrohren voraus, was übrigens sehr, sehr viel mit Militärökonomie zu tun hat. Entsprechend der Munition wird das Rohr der 100-mm-Pak ein 23-mm-Rohr eingepaßt und daraus geschossen. 28 Mal standen vor der Batterie diesmal solche Feueraufgaben. 27mal saß die Granate!

Wo Du mit der MT-12 hinhälst da schießt sie auch hin", hatte Oskar Steinbach gesagt und einschränkend hinzugefügt:"Wichtig ist bloß, daß Du blickige Ka-Einse hast, denn die stellen schliesslich ein, wo mit der Kanone hingelangt werden soll!" Einen der Richtkanoniere, der sein Handwerk versteht, zwang es kurz vor der Übung aufs Krankenlager. Obwohl in jenen Tagen wahrlich nicht wenig zu tun war, machte sich der Geschützführer auf den Weg ins Armeelazarett zu einem Besuch des Soldaten Gustavus. Mit Blumen. Mit einem Paket vom Zug. Mit ein paar passenden Worten. Ich bin mir sicher, daß da auch der Hauptfeldwebel Steinbach seine Hände im Spiel hatte. Seine Jungs, die hält er zusammen, der Vater der Batterie!
Eine andere "Zutat" zur Bestnote erlebe ich in der Nacht mit. Der MT-LB-Gruppenführer Oberfeldwebel Jörg Fabian und Unteroffizier Timo Berner machen sich an dessen Fahrzeug zu schaffen. Einseitig kettenlos im Sand stehend bittet Timos "MTi" nicht gerade einen erfreulichen Anblick. "Ich hatte unterwegs nur gemerkt, dass scih die Maschine etwas schwer lenken ließ", erinnert sich der gelernte Musikintrumentenbauer aus Klingenthal an den Zwischenfall. "Dann gabs einen bärischen Knall, der Schlepper zog scharf nach links..." Fakt ist, daß der Exzenter ausgewechselt werden muß, jene Welle, auf der das Leitrad für die Kette sitzt. Also eine "Kleinigkeit" wie man sie jeden Morgen nach dem Zähneputzen übt! Es gibt den guten Rad von Hauptmann Früchtel, dem Techniker, herzlich wenig Licht auf der stockdunklen Lichtung und erfreulich viel Wärme, herrührend von der regen Teilnahme der anderen Fahrer. Soldat Jens Oelsch stellt seinen Ural quer und hilft mit dessen gleißenden Scheinwerfern aus. Die Unteroffiziere Thomas Kleintoph, Detlef Hamman und Uwe Kirschke wollen, indem sie unaufgefordert ihre Hilfe antragen, auch noch was dazulernen. Nicht schlecht, Herr Specht, denke ich da. Die halten zusammen. Woher kommt denn das?

Das Verdienst an solchen solch zweckmäßiger Gesellschaft ist zweifellos dem Oberfeldwebel Fabian zuzuschreiben. Der 21jährige gelernte Maschinist für Transport- und Hebefahrzeuge hat immer sein Publikum. Er ist nicht auf den Mund gefallen und sich nicht zu schade, nach allem, was ihn interessiert zu fragen. Oder sich - auch von seinen Unteroffizieren - Handgriffe zeigen zu lassen. In die SED aufgenommen wurde der jetzige Berufsunteroffizier schon im Eisenhütter Stahlkombinat, und geradezu wie dort, so sei er auch hier geblieben, meint Jörg. Das sei noch immer die beste Methode.
Was Jörg ganz besonders wichtig ist: Er ist verheiratet und - wunschgemäß - Vater eines Sohnes. Ich merke richtig, wie ihm, als er das erzählt, das Herz überströmt vor Freude. Seine Frau hat schon mehrfach erquicklich in den Soldatenalltag der Batterie eingegriffen. Rückt ein Fahrer-Geburtstag heran, so streckt und hebt sich in Fabians Elektroofen rechtzeitig ein Geburtstagskuchen für alle. Und hat Jörg 24 Stunden Dienst in der Kaseren, so wächst tags zuvor ein inzwischen fest betitelter "Dienstkuchen" zum kollektiven Verzehr heran. Überflüssig zu sagen, daß nicht Kaffee und Kuchen allein die Fahrer der Batterie einander näherbringt, sondern vieles, was dabei zur Sprache kommt und dann noch wirkt, wenn es wieder und wieder über Waldwege und Lichtungen auf das weitläufige, kahle, sandige, ein wenig hügelige Schießplatzgelände geht.

Zehn Feueraufgaben sind an den letzten Tagen der Übung zu schießen, davon zwei unter Schutzausrüstung und zwei bei Nacht. Die Batterie entfaltet sich aus der Marschordnung. Alle konzentrieren sich nach vorne, denn sie wissen: Nach Ablauf der Normzeit für die Note 3 beim Beziehen der Feuerstellung beginnen die Ziele unweigerlich zu laufen. Durch die vielen kleinen Senken verschwinden sie zeitweilig. Da muß man die Sekunden mitzählen, die zurückgelegten Meter des Ziels einkalkulieren, den veränderten Aufsatz für die Geschütze befehlen, den Seitenwind berücksichtigen... bis zum "Achtung! Panzer in 1500!"



Gut, daß ich das mehrmals am Tage gesehen habe. So ahne ich zumindest, was sich beim Nachtschießen abspeilt, als still und kalt schwacbläuliche Zeichen von Taschenlampen flimmern, Rückleuchten blinken, als sich die Fahrzeuge mit dem kleinen MG-Turm wieder ein Stück nach vorne wagen. Abgeschossene Leuchtraketen verstümmeln Gelände und Technik durhc bizarre, wandernde Schatten.

Das Einfahren in die Feuerstellung vollzieht sich dann wie ein Wirbel. Da müssen doch die Fahrer und die Kanoniere ie Augen in die Hand genommen haben! Im Feuerschein der Abschüsse sehe ich, wie sich die Soldaten auf die Holme stemmen, wie sich die Geschützführer und "Ka-Einse" abducken. Dann schnell Stellungswechsel!

Nach dieser Nacht kann den Panzerjägern der Batterie Teichmann keiner das Recht streitig machen, den Kopf ein Stückchen höher zu tragen. Oder soll man da nicht stolz drauf sein, wenn von 22 Zielen alle bekämpft wurden? Und 21 davon mit der ersten Granate?!

Beobachtungen und Gedanken notierte Oberstleutnant Bern Schilling

Bild: Major Walter Jeromin (1) und Oberstleutnant Bernd Schilling